Der mysteriöse Unbekannte


Hab’ keine Angst. Ich tue dir nichts zuleide. Ich hörte dein Weinen. Und ich mag es nicht, wenn jemand weint.
Diesen Sommer vergißt Karolina nie. Anfang Juli fuhr sie mit ihren Freunden ans Meer. Schon am ersten Tag hatte sie einen unglücklichen Unfall und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Da sie Verletzungen davontrug, mußte sie einige Tage dort bleiben. Eines Nachts, als sie nicht einschlafen konnte, ging ein junger Mann in ihr Zimmer hinein. Er war 23 Jahre alt, nicht mehr, vielleicht weniger. Er setzte sich neben sie und faßte sie an der Hand. Karolina versuchte nicht die Hand zu befreien, denn er fühlte sich gut an. ‚Hab’ keine Angst. Ich tue dir nichts zuleide. Ich hörte dein Weinen. Und ich mag es nicht, wenn jemand weint. Ich weiß, daß der Aufenthalt im Krankenhaus bedrückend ist. Jetzt versuch’ zu schlafen’. Als Karolina bewußt wurde, daß sie ihn nicht einmal nach seinem Namen fragte, war der mysteriöse Unbekannte nicht mehr da. ‚Wer ist das’ – fragte sie. Den Tag darauf suchte sie ihn in allen Krankensälen. Aber er war nirgends. Sogar die diensthabende Krankenschwester wußte nicht, wer das sein könnte, obwohl Karolina ihn sehr genau beschrieb. ‚Sicher war der Traum. Sie haben eine lebhafte Phantasie’. Karolina glaubte nicht daran. Sie wußte, daß jemand sie in der Nacht besucht hatte. Sie fühlte das. ‚Wer ist das’. Mit Ungeduld wartete sie also auf die Nacht, denn sie meinte, daß dieser Unbekannte wieder zu ihr kommen würde. Und sie irrte sich nicht. Als alle Lampen ausgemacht waren und es kurz vor Mitternacht war, hörte Karolina, daß jemand leise die Tür öffnete. Sie wollte absichtlich nicht schlafen, um den mysteriösen Unbekannten zu treffen, den niemand hier kannte. ‚Du. Ich habe gewußt, daß du kommt’. Er sah sie ein dringlich an. Karolina erschrack jedoch nicht. Seine Anwesenheit bewirkte, daß sich Karolina immer beruhigte. ‚Übermorgen verläßt du das Krankenhaus. Neben dem Gebäude ist der Fahrbahn. Du mußt sehr aufpassen, mehr denn je. Kannst du mir das versprechen? Sonst gehe ich hier nicht hinaus’. ‚Ich möchte, daß du die ganze Nacht bei mir bleibst. Ich verspreche dir dennoch, daß ich sehr vorsichtig werde. Wie heißt du mit Vornamen?’ ‚Marek, meine Abteilung befindet sich eine Treppe höher. Ich bleibe bei dir, bis du einschläfst’. Am Morgen gedachte Karolina nicht mehr ihres Versprechen. Nur dieser Nachtmann interessierte sie. ‚Haben Sie gestern in der Nacht einen jungen Mann in unserem Krankensaal gesehen? Ich habe mit ihm gesprochen’. – fragte sie eine Patientin, die in dem Bett neben Karolina lag. ‚Es tut mir leid. Ich habe nichts gesehen und gehört’. ‚Das is unmöglich’ – sagte Karolina zu sich – ‚nur ich sehe ihn und spreche mit ihm. Zum teufel! Er ist kein Geist!’. Sie wußte nicht, wie sie ihn wiederfinden könnte und trotzdem dachte sie darüber nach, warum Marek nur in der Nacht kam. Als die Freunde sie besuchten, nahm sie die Gelegenheit wahr und bat sie um Hilfe. Obwohl die Freunde ihr gern halfen, war das Ergebnis ihrer Suche unbefriedigend. ‚Karolina. Im zweiten Stock sind bis drei Abteilungen. Aber in keiner ist der Mann, von dem du uns erzählst hast. Vielleicht hat die Krankenschwester recht, daß das nur ein Traum war’. ‚Zweimal hintereinander? Das ist unwahrscheinlich. Und ja, das war sogar ein sehr realistischer Traum. Ich verstehe nicht, was los ist’. ‚Morgen verläßt du das Krankenhaus. Das ist jetzt am wichtigsten. Wir warten vor dem Gebäude auf dich’. ‚Ja, ja’. Karolina wartete schon auf die nächtliche Begegnung. Und obwohl sie wach war, kam Marek diesmal nicht. Sie bedauerte es. Sie wollte ihn sehen und außerdem wollte sie sich von ihm verabschieden. Sie spürte trotzdem die Anwesenheit von jemandem und den leichten Atem. Sie achtete aber nicht darauf. Sie wartete die ganze Nacht, aber schlief in der Frühe ein, weil sie müde war. Sie suchte nicht nach ihm , denn sie wußte nicht, wie sie das tun und wo sie überhaupt beginnen sollte. Am Nachmittag verließ sie das Krankenhaus. Sie hatte nur eine kleine Tasche, in der sie ihre Sachen legte. An der anderen Straßenseite warteten ihre Freunde schon auf sie. Karolina wollte zu ihnen hinlaufen und als sie schon auf der Fahrbahn war, hörte sie die mysteriöse Stimme: ‚Neben dem Gebäude ist die Fahrbahn. Du mußt aufpassen’. In diesem Moment bemerkte sie ein mit sehr großer Geschwindigkeit fahrende Auto. Sie konnte sich nicht bewegen. Plötzlich spürte sie, daß jemand sie am Arm nahm und vor sich her stieß. Hinter ihr stand jedoch niemand. Sie war sehr erstaunt und konnte kein Wort sagen. ‚Der Verrückte. Er kann wohl nicht fahren. Tut dir etwas weh?’ ‚Alles ist in Ordnung. Aber zwei Unfälle innerhalb weniger Tage sind für mich zuviel. Habt ihr gesehen, wer mich gerettet hat?’ ‚Gerettet? Du bist wohl verrückt geworden. Niemand ist da. Sie schaute auf das Fenster des Krankenhauses. In einem von ihnen sah sie Marek. Er stand da und beobachtete sie, mit der Hand winkend’. ‚Arek! Sag’ mir, welche Abteilungen du besucht hast’. Sie mußte erfahren, welche Geschichte sich hier abspielte. ‚Diese, die du wolltest’. ‚Zähl’ auf!’ ‚Ophtalmologie nach links, Onkologie nach rechts …’ ‚Onkologie nach rechts …’ – wiederholte Karolina. ‚Und wohl Laryngologie. Sicher bin ich nicht’. ‚Unwichtig. Ich muß dorthin zurückkehren’. Karolina lief zum Krankenhaus hin. Schwer atmend, ging sie die Treppe hinauf. Sie fand Onkologie wieder und fragte eine junge Krankenschwester: ‚Ich suche einen Mann Namens Marek. Ich kenne seinen Namen nicht. Er ist groß, brünett, dünn …’. ‚Es tut mir leid, aber diesen Mann gibt es hier nicht. In der Nähe von Karolina stand eine ältere Dame, die aufmerksam dem Gespräch zuhörte. Nach einer Weile redete sie an: ‚Ich weiß, wen Sie suchen und wo Sie ihn finden können. Als der Arzt die Diagnose stellte – Leukämie – war es, war es schon zu spät. Er wußte, daß er sterben wird, aber er hatte keine Angst. Bis zum Tode hat er alle getröstet. Der Krebs hat ihn getötet. Vor drei Wochen ist er gestorben’. ‚Drei Wochen? Aber … aber … . Die letzten beiden Nächte hat er mich besucht. Ich habe mit ihm gesprochen’. ‚Immer hat er an andere gedacht, sogar nach dem Tode’. ‚Er hat gewußt, daß ich in Gefahr bin. Sie haben gesagt, daß Sie wissen, wo ich ihn finden kann. Wie komme ich zum Friedhof?’ ‚Ich begleite Sie. Ich gehe oft dorthin, denn er ist mein Sohn’. Die beiden Frauen, die Mutter und das Mädchen, dem er das Leben gerettet hat, legten Rosensträuße auf das Grab. Diese Geschichte war für Karolina so unglaublich. Marek hat das wertvollste Geschenk verehrt. Das war das Schönste, was sie im Leben erfahren hatte.